Tief im Land by Neil Ansell
Autor:Neil Ansell
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
Herausgeber: 9783843714488
veröffentlicht: 2015-12-31T16:00:00+00:00
6
Ein flüchtiges Geschenk
Die Habichte überraschten mich. Soweit ich wusste, waren sie bereits seit Jahrzehnten aus Großbritannien verschwunden – ihre heimliche Rückkehr war komplett an mir vorübergegangen. Ich weiß nicht, wie oft ich sie, ohne es zu wissen, beobachtet haben muss, jedenfalls dauerte es Monate, bis ich meinen Augen denn auch traute: Ich sah hier tatsächlich ein Geschöpf, das ich für ausgestorben gehalten hatte.
Darüber hinaus ist der Habicht berüchtigtermaßen selten zu sehen. Noch mehr als der Sperber scheint der Habicht an der äußersten Peripherie der menschlichen Wahrnehmung zu leben. Glaubt man, einen gesehen zu haben, und dreht sich nach ihm um, hat er sich auch schon wieder in Luft aufgelöst. Vor dem Hintergrund des offenen Himmels lässt sich die Größe eines Vogels besonders schwer einschätzen, da man dort keinen Bezugsrahmen hat. Nun ist der Habicht aber im Grunde genommen nichts anderes als ein übergroßer Sperber; in Färbung und Gefiederzeichnung ähnelt er beinahe bis aufs i-Tüpfelchen dem Weibchen der kleineren Spezies. Außerdem unterscheiden sich Habichtmännchen und Habichtweibchen erheblich in der Größe, und so bilden die beiden Arten einen Größenverlauf vom kleinen Sperbersprinz, wie der männliche Sperber genannt wird, der kaum größer als eine Misteldrossel ist, bis zum Habichtweibchen, das sogar den Mäusebussard übertrifft. Im Wesentlichen sind Habichte Sperber in der Steigerungsform: Sie sind größer. Sie sind wagemutiger. Sie sind wilder. Und sie sind schneller. Sie verkörpern all die Eigenschaften, die ich an Sperbern besonders schätzen gelernt habe, allerdings mit Schnellganggetriebe.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie mir das erste Mal bei einem vorüberfliegenden Vogel der Gedanke an einen Habicht gekommen war, wenn auch nur flüchtig. Das war während meines ersten Herbstes im Cottage gewesen. Ich ging gerade an dem Buchenhangwald vorbei, der sich auf halbem Wege zum Fluss an den Hügel schmiegt. Die Buchen hatten in diesem Jahr sehr viele Früchte getragen, die den Ringeltauben nun als Festmahl dienten. Plötzlich schoss ein Greifvogel am Rand des Waldes etwa sechs Meter über meinem Kopf an mir vorbei und in den Wald hinein und ließ dabei die Ringeltauben panisch in alle Richtungen aufflattern. Dann wendete er und flog über das Tal vor mir. Er hatte anscheinend die Größe eines Mäusebussards, aber irgendetwas stimmte da nicht. Beispielsweise war sein Schwanzgefieder viel zu lang. Als sich der Vogel in einem einzelnen Baum auf der anderen Seite des Flusses mir direkt gegenüber niederließ, zog auf einmal eine dunkle Wolke am Himmel vorüber und ergoss sich in einem sintflutartigen Regenschauer. Ich suchte am breiten, grauen Stamm der nächsten Buche Schutz, obwohl ich ohnehin schon bis auf die Knochen durchnässt war, und versuchte, den Vogel im Auge zu behalten, aber ohne Erfolg. Dichte Regenschleier wehten das Tal oberhalb des Flusses hinauf; ich konnte kaum den Baum ausmachen, in dem sich der Vogel niedergelassen hatte, geschweige denn den Vogel selbst. Wenige Minuten später hörte der Regen so plötzlich auf, wie er begonnen hatte, und die Sonne kam wieder zum Vorschein – der Vogel allerdings war verschwunden. Ich überzeugte mich rasch davon, dass es ein weiblicher Sperber gewesen sein musste und ich Entfernung und Größe nur falsch eingeschätzt hatte.
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